Dienstag, 9. Oktober 2012

Das andere Amerika: Mit Daniel Woodrell in den Ozarks


Eichenwälder, Wiesen und Weiden – die Ozarks in Missouri und Arkansas sind das grüne Herz Amerikas und ein Paradies für Naturliebhaber. Dass sie auch das dunkle Herz Amerikas sind, zeigen die Romane von Daniel Woodrell.
Grüne Hügel säumen den Horizont, wildes Gesträuch drängt an die Schotterstraßen, in den Bäumen singen Vögel, Hummeln brummen von einer Wildblume zur nächsten, Bäche plätschern – das Herz könnte einem aufgehen. Doch was sich in den Romanen des US-Autors Daniel Woodrell („Winters Knochen“) als Paradies für Naturliebhaber präsentiert, ist kein Ort für Zartbesaitete.

Nein, in diesem vergessenen Landstrich in der Mitte des Kontinents schlägt auch das finstere Herz Amerikas. Jenes Amerikas, in dem neben gottesfürchtigem, nicht selten bigottem Kleinbürgertum und ein paar wohlhabenden Landbesitzern die Armut zu Hause ist, der „white trash“ („weißer Abschaum“). Verdreckte Kinder spielen auf heruntergekommenen Farmen, es wird gewildert und geklaut, was das Zeug hält, ganze Familien leben in Ermangelung regulärer Jobs vom Meth-Kochen.
Wir sind in den Ozarks, einem von Tälern und Seen durchzogenen Hochplateau im Grenzgebiet von Kansas, Missouri, Arkansas und Oklahoma. Einer Gegend, die die meisten Amerikaner nicht mal vom Hörensagen kennen, „weil sie stets nur in Tausenden Kilometern Höhe darüber hinwegfliegen – von einer Küste zur anderen“, wie Woodrell bei seiner Lesereise durch Deutschland jüngst anmerkte.

Woodrell, Jahrgang 1953, kennt sich in den Ozarks aus. Hier wurde er geboren, und hierher kehrte er zurück, nachdem er mit 17 die Highschool verlassen, sich zu den Marines gemeldet und anschließend ein wildes Leben geführt hatte – wie das in den siebziger Jahren so angesagt war. Zum Glück kam der „Balladensänger des weißen Abschaums“ (taz) dann doch ans College, studierte englische Literatur – und zählt heute zu den wichtigsten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Er erhielt nicht nur den Preis des amerikanischen P.E.N., sein jetzt auf Deutsch vorliegender Roman „Der Tod von Sweet Mister“ eroberte auch auf Anhieb die deutsche Krimi-Bestenliste.
„Country-Noir“ heißt das Etikett, das man Woodrells Romanen aufgeklebt hat. Das kommt nicht von ungefähr: Die schöne Landschaft ist bei ihm Kulisse einer harten Lebenswirklichkeit von Menschen, die es sich nicht ausgesucht haben, in ein kleinkriminelles Umfeld hineingeboren zu werden. Von Menschen wie dem pubertierenden Shug Akins, den sein brutaler Stiefvater im zarten Alter von 13 Jahren zwingt, in die Häuser todkranker Menschen einzusteigen, um ihnen ihre Medikamente zu klauen: „Na, komm schon, Fettsack, auf geht’s – tu mal so, als seist du ein Affe, und flitz das Fallrohr rauf.“
Keine Frage: „Shuggie“ muss erwachsen werden – und zwar schnell. Das findet auch seine Mom, die trotz übermäßigen „Teetrinkens“ – hochprozentige Rum-Cola aus der Thermoskanne – immer noch schöne Glenda: „Wenn du in dieser Welt hier aufwachst, Sweet Mister, dann musst du hellwach sein. Wenn du am Morgen zur Tür hinausspazierst, musst du hellwach sein, und zwar bis zum Abend, wenn die Lichter ausgehen.“
Eine Kindheit in den Ozarks, das wird bald klar, ist ein Kampf ums Überleben. Ein Kampf gegen Gewalt, gegen Drogen, gegen den Alkohol. Ein Kampf aber auch ums Dach über dem Kopf und ums tägliche Brot. „Schwerer brauner Staub lag auf der Straße und grobe Steine mit scharfen Kanten, die manchmal in die Autoreifen drangen wie Tomahawks. Überall, wo wir hinkamen, gab es Beeren.“ Und die sammeln Shug und Glenda, und als die Eimer voll sind, mischt Shug kleine Steine unter die Brombeeren – schließlich zahlt der alte Lake nach Gewicht. „‚Du bist ein raffinierter kleiner Mistkerl, Schätzchen.‘ ‚Du hast mich erzogen‘, erwiderte ich.“

Eine Kindheit in den Ozarks, das ist aber auch ein Kampf gegen die Natur. Während es im Winter „knochenkalt“ ist, lässt die brütende Hitze des Sommers den Schweiß aus den Buchseiten tropfen. Dazu kommt die Einsamkeit jenseits der kleinen Städte: Es gibt hier keine Dörfer, die kleinen Farmen liegen verstreut in den Tälern – manchmal mitten in der Wildnis: „Der Wald drängte von drei Seiten an den Hof und stand mürrisch da wie eine Menschenmenge, die geduldig wartete, aber nicht ganz sicher war, ob sie jemals eingeladen würde.“

Woodrells Romane sind in jedem Fall eine Einladung. Eine Einladung für Leser, die einen Blick in ein ländliches, wunderschönes Amerika fernab glitzernder Fassaden und funkelnder Vergnügungszentren werfen wollen. Eine Einladung aber auch in das dunkle Herz Amerikas.

Daniel Woodrell, "Der Tod von Sweet Mister" (Liebeskind, 192 Seiten, 16, 90 Euro)

Erschienen in der Nordsee-Zeitung, 4. 10. 2012, S. 4, im Rahmen der Serie "Mörderische Reisen"

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